Hof mit Zukunft – 15.-18.6.2023

Stellt Euch vor, Ihr dürft auf einen Bauernhof spazieren und für drei Tage im Stall, im Haus und auf den Feldern alle Fragen stellen, die Euch im Kopf herumgehen.

Im Rahmen der bundesweiten Austausch-Aktion „Hof mit Zukunft“, die durch das „Wir haben es satt!“-Bündnis organisiert wurde, konnten Leonard und Jutta genau das tun. Wir durften zwei Bauernhöfe kennenlernen, die sich der Milchviehaltung verschrieben haben: Den konventionellen Hof Everinghoff im Emsland, nicht weit von Rheine mit 200 Kühen und den Biolandbetrieb Nagel rund 200 Kilometer weiter südöstlich, in der Nähe von Kassel, der 60 Kühe hält.

Lies hier unsere Berichte:

Jutta’s Bericht vom Hof Everinghoff

„Komm, Mäuschen, komm“ – egal ob Chef oder Azubi: im Kuhstall wird sanft gesprochen, es gibt Kosenamen und Komplimente für die Tiere. Aber „Mäuschen“? „Die sind doch so lieb“, sagt Matthias Everinghoff und streichelt eine schwarzweiße Holsteiner Kuh am Kopf, während er braunes Fleckvieh freundschaftlich am Hinterbein kratzt.

Super Stimmung auf dem Hof

Die Auszubildende Lea lernen wir als Erste kennen. Sie beginnt bald mit einer festen Stelle hier und will ihren Traum von einem eigenen Hof in direkter Nachbarschaft Stück für Stück in die Tat umsetzen.

Die 14-jährige Nachbarin kommt regelmäßig zum Helfen. Nach einem Praktikum und einem Sommerferienjob ist sie immer wieder gerne dabei. Vor allem am Samstag sind viele junge Leute auf dem Hof im Einsatz. Alle wissen, was zu tun ist, bedienen sicher die Maschinen und stimmen, wo nötig, nächste Schritte mit dem Betriebsleiter ab. Hier wird viel gelacht, die Chemie scheint zu stimmen.

Freiwillige Aurelia erzählt der lokalen Journalistin von ihrer Motivation, bei „Hof mit Zukunft“ teilzunehmen. Eine neugierige Kuh macht aus dem Interview ein kleines Abenteuer.

Wir kommen im Wohnhaus der Eltern von Matthias unter. Seine Mutter Maria ist Hauswirtschaftsmeisterin und immer noch zuständig für die Kälberfütterung. Häufig ist sie auch beim Melken dabei und bewirtet gerne Mitarbeitende und Gäste. Sie erzählt stolz, dass der Hof schon seit rund 800 Jahren im Familienbesitz ist – eine Größe im Dorf und nicht wegzudenken aus seiner Geschichte.

Die Kühe des Hofes

200 Milchkühe leben auf dem Hof plus die Kälber beiderlei Geschlechts (bei unserem Besuch sind rund 40 in den Einzel- und Gruppen-Iglus untergebracht) sowie die heranwachsenden weiblichen Rinder.

Alle Kühe tragen eine Nummer an einem Halsband mit dem Chip für die Melkmaschine, aber alle haben auch einen Namen. Die Namen der Lieblingstiere kennen alle Menschen auf dem Hof, aber bei vielen anderen sagen die Auszubildenden: „Das weiß Matthias“. Der kennt auch nicht alle Namen, kann aber von jeder Kuh etwas über deren Leben auf dem Hof, den letzten Tierarztbesuch oder die Entwicklung beim Melken sagen.

… und ihr Futter

Die Kühe bekommen eine Ration mit eigenem und zugekauften Futter. Etwas über 80 Prozent des Futters könnten Menschen nicht essen, das ist Landwirt Everinghoff wichtig: Bei Silage aus eigenem Mais und (Klee)Gras fressen die Tiere niemandem etwas weg. Kraftfutter kauft er zu. Derzeit sind pro Kuh und Tag 1,5 Kilo Soja aus Brasilien in der Ration. Gentechnikfrei ist es, aber was in Brasilien mit dem Sojaanbau einhergeht, ist auch für den Betriebleiter eine große Sauerei.

Wir diskutieren auch hier über Alternativen und Perspektiven. Die Sojaimporte müssen runter, da sind wir uns sofort einig. Matthias kann sich vorstellen, später einmal für die eigenen Tiere Lupinen anzubauen und so die Eiweißkomponente selbst zu ziehen.

Beim Thema Tierfutter müsse aber noch viel mehr passieren. Ein Punkt ist das Verbot des Verfütterns von Lebensmittelabfällen. Gerade für die Allesfresser Schweine wären die perfekt. Als vor vielen Jahren die BSE-Krise die Politik erschütterte, hatten die Verantwortlichen ein komplettes Verbot der Verfütterung von Lebensmittelabfällen erlassen. Das sei aber übers Ziel hinaus gegangen. Matthias und seine Frau Ina kennen den lokalen Gastronomen gut. Allein dort fallen große Mengen gute Lebensmittel an, die in den Müll wandern. Sie wollen, dass sich das ändert.

Melken

Morgens von 5.15 Uhr bis 8.15 Uhr ist es die erste Aufgabe des Tages, nachmittags von 17.00 bis 19.00 Uhr nicht immer die letzte. Sechs Stunden pro Tag dreht sich alles um den Melkstand und die Milch – und das sind emsige Stunden. Mindestens zwei Leute im Melkstand melken die Kühe an, reinigen die Euter, setzen die Melkmaschine an, überwachen die computergestützte Milcherfassung, achten auf die Zeichen für Krankheiten bei den Tieren, behandeln die Euter mit einem Desinfektions-Mittel nach dem Melken.

Eine Person hat die Aufgabe die Kühe, die in mehreren festen Gruppen in ihren jeweiligen Ställen stehen, nacheinander in den Wartebereich des Melkstandes zu treiben. Das ist eine logistische Herausforderung. Immer müssen die richtigen Tore geöffnet und geschlossen sein. Denn bald werden die fertig gemolkenen Kühe auf einem Laufgang neben dem Melkstand zurück getrieben. Zu Stau oder Gruppen-Durcheinander soll es nicht kommen.

Jede zweite Nacht kommt der Milchlaster der Molkerei Mertens und holt einen bis oben gefüllten Milchtank ab – ein großer Teil der Milch landet in Sahne und Torten der Firma Coppenrath und Wiese, ein Hof in der Nähe nimmt eine kleine Menge direkt ab und stellt daraus Eiscreme her.

Die schlimmste Erfahrung

Matthias erzählt von seiner schlimmsten Zeit auf dem Hof: 2017 erkrankten mehrere seiner Kühe an BHV1, dem Rinder-Herpes-Virus. Die ersten starben, die Infektion breitete sich rasend schnell aus. In solch einem Fall muss das Vorgehen mit den amtlichen Tierärzten eng abgestimmt werden. Die Krankheit gehört zu den meldepflichtigen Seuchen.Es war der Worst-Case: Matthias und Ina mussten alle 250 auf dem Hof lebenden Kühe, Rinder und Kälber zur Schlachtung bringen oder einschläfern lassen. Der Hof war leer, die Verzweiflung groß. Es war ein Moment, wo Matthias überlegte, aufzugeben. Zusammen mit Ina entschied er aber, weiter zu machen.

Matthias und Regina

Matthias und Regina (Ina) waren schon früh ein Paar. Als Ina 18 war, so erzählt sie, sagte ihr Matthias, dass sein Leben auf jeden Fall mit dem Hof verbunden sei und bleibe. Als sie 23 war, zogen sie zusammen. Es war schwierig, das Leben mit Schwiegereltern, die eine starke Meinung hatten zu allem und vor allem dazu, wie sie sich eine gehorsame und arbeitswillige Schwiegertochter vorstellten.

Dem jungen Paar gelang es, eine Lösung zu finden: Ina hatte auf Lehramt studiert und beschloss, in den Schuldienst zu gehen. Jenseits des Unterrichts denkt sie den Betrieb mit, kümmert sich engagiert um Gäste und Kindergruppen und ist viel für die drei gemeinsamen Kinder da.

Als die Kühe mit der Seuche vom Hof gingen, war es ihr Gehalt, dass den Betrieb mit am Leben hielt. Gemeinsam haben sie auch das Erbe für den Hof geklärt.

Beide hoffen, dass der Mittlere, Sohn Johann, eines Tages den Hof übernehmen wird. Bis zur Entscheidung sind aber noch ein paar Jahre Zeit.

Viel Arbeit, wenig Pausen

Der Klingelton seines Handys summt mir noch abends im Kopf. Ständig tönt er aufs Neue, Matthias unterbricht unser Gespräch und klärt in kürzester Zeit, was gerade zu klären ist: Was soll mit einer auffälligen Kuh als nächstes passieren, was braucht sein Sohn gerade, passt dieser Termin noch zum nächsten, ob er mal kurz gucken kommen kann…?

Als das Paar den Betrieb übernahm und einige Umbauten realisierte, machten sie 8 Jahre überhaupt keinen Urlaub. Inzwischen ist eine Woche pro Jahr möglich. Allerdings muss das Urlaubs-Sparschwein prall gefüllt sein, denn mehrere Menschen vertreten die beiden Betriebsleiter*innen in mehreren Schichten rund um die Uhr auf dem Hof. „Das sind bis zu 7.000 Euro, die uns die Urlaubswoche am Ende kostet“, sagt Ina.

Die Biogasanlage

Am Samstag fahren wir mit Matthias zu seiner Biogasanlage, die er zusammen mit seinem Cousin Martin betreibt. 600.000 kwh Strom liefert sie pro Jahr, mit der Abwärme der Stromerzeugung heizt sie sich selbst. Im Sommer allerdings ist es manchmal eine Herausforderung, die Temperaturen so zu halten, dass die Bakterien im Fermenter ihre Arbeit gut tun können. Die Anlage wird zu 100% mit Gülle und Mist betrieben, neben ihr steht ein noch größerer Lagerbehälter, den Gülle-Laster gut anfahren können, um die Gärreste mitzunehmen.

Die Biogasanlage

Tierwohl und Tiergesundheit

Einiges gefällt mir sehr gut auf dem Hof Everinghoff. Allem voran der Umgang mit den Tieren: niemand wird laut, liebevoll wird gekratzt und getätschelt. Auch der Auszubildende sagt, während er an einer störrischen Kuh schiebt, bis sie sich dann doch wieder in Bewegung setzt: „Es geht um Vertrauen. Wenn Du einmal im Stall brüllst, dann merken sich die Tiere das, dann ist es vorbei mit dem guten Verhältnis.“ Und er hat viel Verständnis, wenn eine Kuh sich mal in die falsche Richtung dreht und alle anderen aufhält. Da weder er den Kühen noch sie ihm in den Kopf sehen könnten, sind ruhige und klare Signale wichtig. Wenn Chaos ausbricht, gehe es meistens von den Menschen aus.

In jedem Stall gibt es Stroheinstreu, die Kühe können durch den Stall gehen und im Stehen oder Liegen am Ort ihrer Wahl wiederkäuen.

Der Landwirt betont immer wieder: die Leistung ist nicht das wichtigste Kriterium für seine Tiere. Wenn eine Kuh von Kindern oder Mitarbeiter*innen besonders geliebt wird, ist ihr manche Extraportion Streichelei und auch ein langer Verbleib auf dem Hof sicher.

Aurelia und Lea füttern das kleine Kalb Ludwig.
Ein Kalb wird geboren
Es ist da!

Vieles ist aber auch bedrückend. Die Kälbchen bleiben nicht einmal einen Tag bei ihrer Mutter. Allerdings schreien sie dann nicht nacheinander, das habe ich auf mehreren Biohöfen erlebt und mitgelitten. Wir erleben drei Geburten und obwohl sich das Verhalten der Kühe unterscheidet, zeigen alle drei Mütter zeigt nur mäßiges Interesse an ihrem Kind. Die Kuh leckt es etwas, futtert dazwischen aus dem bereit gestellten Trog, reagiert wenig auf das Kleine. Und: Stellen sich eigentlich alle Kälbchen so dämlich an bei der Suche nach dem Euter? „Haben die eigentlich keine Instinkte mehr?“, fragt meine Mitfreiwillige. Damit jedes Kalb garantiert eine gute Portion der wertvollen Biestmilch bekommt, also die allererste Milch, die mit ihren Inhaltsstoffen eine Grundlage für das Immunsystem der Tiere legt, wird die Mutter von Hand gemolken und das Kalb mit der Flasche gefüttert. Biestmilchmanagement heißt der nüchterne Fachbegriff dazu.

Die Euter der Kühe sind viel zu groß. Zwar sagt Matthias, dass er inzwischen viel mehr darauf achtet, dass die Bullen die Gesundheit ihrer Kinder positiv beeinflussen. Auch in der Züchtung sei endlich angekommen, dass die Lebensleistung viel wichtiger wird als die Spitzenleistung. Außerdem will er bestimmte Dinge definitiv nicht mehr, wie Maximal-Leistungen direkt nach der Geburt, die die Kühe zugrunde richten. Aber trotzdem sind heute auch mehrere seiner Kühe von den typischen Leiden der Hochleistungstiere betroffen: Sie hinken stark, haben immer wieder Klauenprobleme. Dass sie überhaupt nicht auf die Weide kommen, verschärft dieses Problem.

Euterentzündungen gibt es ebenfalls immer wieder, auch wenn gerade wenige Tiere der Herde akut betroffen sind.

Längerfristig würde der Landwirt seinen Kühen gerne Weidemöglichkeiten bieten. Dafür wären Verlagerungen der Ställe nötig und neue Zäune. Einmal mehr eine ganze Menge Geld und Arbeit. Aber er ist ein Macher, die Urenkelinnen der heutigen Kühe dürfen hoffen.

Politisches Engagement

Matthias Everinghoff ist sowohl im Kreisverband des Landvolks (das ist der Bauernverband in Niedersachsen) aktiv als auch bei „Land schafft Verbindung“, der streitbaren Bauernbewegung. Kaum zu glauben, wann und wo das noch in sein Leben passt.

Gerade war er zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), mit Fridays for Future und den Parents for Future auf der Straße: Es ging gemeinsam gegen das Handelsabkommen zwischen EU und Mercosurstaaten. Die Landwirt:innen befürchten eine neue Welle von zu billigem landwirtschaftlichen Importprodukten, die Klimaschützer*innen warnen vor negativen ökologischen und sozialen Folgen des Abkommens in den südamerikanischen Ländern.

Mit den „Parents for Future“ steht Martin Everinghoff in regelmäßigem Kontakt. Die Zusammenarbeit soll weitere gute Ideen für eine ökologischere und klimaverträglichere Landwirtschaft hervorbringen.

Seit Matthias immer wieder mit seinen Vorschlägen öffentlich auftritt, bekommt er noch mehr Anrufe auf seinem Smartphone. Auch aus Berlin hole sich immer wieder der ein oder andere Agrarpolitiker eine Politikberatung bei ihm ab. Und dann geht es wieder um Strategien für die nächsten Aktionen und Kampagnen von LsV.

Diskussion im Stall

Leonard beim Biohof Nagel

Über mein Praktikum bei Aktion Agrar erfuhr ich von dem Projekt „Hof mit Zukunft“. Kurzfristig angemeldet konnte ich einen Hof wählen und bekam über eine Chat-Gruppe direkt die ersten Informationen zur Organisation, Ablauf des Projektes und den Hof.

Bioland-Hof Nagel:

Der 200 ha große Bio-Betrieb hat 60 Milchkühe, diese werden mit einem Melkroboter gemolken. Die Kälber wachsen mit ihrer Mutter (muttergebundene Kälberaufzucht) und zusammen mit den anderen Kälbern auf. Sie haben Platz und sind sehr verspielt. Die Milch wird an die Upländer Bauernmolkerei geliefert, welche Bauer Reinhard Nagel mitgegründet hat und von den Bauern selbst verwaltet wird.

Auch betreibt Nagel Ackerbau und baut Kleegras, Speisegetreide oder Dinkel an was in der Region weiterverarbeitet und verfüttert wird. Das Kleegras bietet frische Proteinhaltige Nahrung für seine Kühe. Seit 11 Jahren bewirtschaftet der Hof die Ackerflächen pfluglos, um Lebewesen im Boden zu erhalten.

 Reinhard Nagel empfing uns  auf dem Hof im nordhessischen Nieder-Waroldern mit einem Abendbrot und begann direkt über seinen Hof zu erzählen.  Der Bauer arbeitet in der Landwirtschaft, seit er 15 Jahre alt ist und pachtet den Hof seit seinem neunzehnten Lebensjahr.

Nagel ist Autodidakt und hat sich ohne Ausbildung oder Studium ein komplexes Wissen über ökologische- und landwirtschaftliche Prozesse, Betriebswirtschaft, Mechanik, Politik und Öffentlichkeitsarbeit, praktisch (Learning by Doing) angeeignet. Nagel war Sprecher der hessischen AbL und der Interessensgemeinschaft gegen Nachbaugesetze und Nachbaugebühren (IGN). Außerdem ist er aktivistisch bei Protestaktionen der BDM und Demonstrationen des „Wir haben es satt“ Bündnisses dabei.

Lange Zeit betrieb Nagel mit seinem Hof eine konventionelle Landwirtschaft. Gegenüber dieser wurde er aber mit der Zeit und Erfahrungen mit Hautauschlägen, durch Pestizide, skeptischer.

Seit 1989 beschäftigt sich Reinhard Nagel mit dem Ökologischen Anbau und versucht seitdem eine kreislauforientierte Landwirtschaft zu betreiben. Ökologisch wirtschaftet Nagel seit 1990 und ist seit 1996 offiziell als Biolandhof zertifiziert. Aus eigener Erzählung betreibt er seinen Hof aus Spaß und Leidenschaft, achtet auf das Tierwohl und die ökologische Nutzung der Natur (Kreislauf Wirtschaft) und arbeitet nicht fürs Geld. Nagel betreibt den Hof mit seinem Sohn, welcher auch offizieller Betriebsleiter ist, und beschäftigt einen weiteren Mitarbeiter der ursprünglich aus Rumänien kommt. Nagel strebte immer an, den Hof möglichst unabhängig zu betreiben und ist der Überzeugung, dass seine Art dezentraler Landwirtschaft krisensicherer und zukunftsfähiger ist.

Mit der eigenen Produktion von Futter (Kleegras) für die Tiere, dem Weglassen von Pestiziden und Zukauf von Düngemitteln, sowie einer eigenen Heizanlage zum Verbrennen von selbst angebauten Dinkelspelz (spart 15000 Liter Heizöl) versucht er sich unabhängiger zu machen. Jedoch kommt auch Nagel nicht komplett ohne Abhängigkeiten aus und muss Bankkredite nehmen, Öl und Strom beziehen, Reparaturen am Melkroboter vornehmen lassen, tiermedizinische Pflege bezahlen und staatliche Subventionen beantragen.

Er versucht aber auf seine Art und Weise, Widerstand gegen große Agrarkonzerne und das derzeitige System der Landwirtschaft zu leisten und mit seinem Hof als eine Art Gegenbeispiel für konventionelle Höfe bereitzustehen und auszuhelfen.

Leonard füttert die Kühe mit Kleegras.
Eine Kuh im Melkroboter. Die neue Technik erleichert die tägliche Arbeit auf dem Hof.

Das Wochenende war für mich persönlich eine Bereicherung auf mehreren Ebenen. Ich hatte für die kurze Zeit unfassbar viele Wissensinputs zum Leben, Arbeiten und den Perspektiven eines Bioland-Bauern, sowie einen Einblick in den Betrieb eines Hofs im Zusammenspiel mit ökologischen Kreisläufen und in den Produktionsprozess von Milch.

Zudem konnte ich durch den direkten sozialen Kontakt zu Reinhard Nagel und meiner Mitteilnehmerin etwas über zwischenmenschliche Begegnungen und Kommunikation lernen. Dabei fiel mir auf wie wichtig der direkte Austausch ist, um respektvollen und toleranten Umgang mit Menschen mit unterschiedlichen Berufen, Lebensvorstellungen und Meinungen, zu lernen. Das Projekt „Hof mit Zukunft“ bietet beides und kann meiner Meinung nach eine soziale und inhaltliche Bereicherung für alle Beteiligten darstellen.

Reinhard Nagel hat sich für uns Teilnehmende sehr viel Zeit genommen, um uns Einblicke in sein Leben und seinen Hof zu ermöglichen. Durch ihn wurde uns verdeutlicht, dass es Beispiele und Lösungsansätze gibt, einen landwirtschaftlichen Betrieb nachhaltiger, kreislauforientiert und mit Bedacht auf Tierwohl und Ökologie zu gestalten.

Dabei kommt es für Reinhard Nagel, nicht nur auf den Output bzw. Geld und Leistung drauf an, sondern auf den Input und dessen langfristigen Auswirkungen oder Folgen, die nicht direkt spürbar sind. Die Perspektiven von Herrn Nagel haben uns näher gebracht, mehre Standbeine und Ziele zu verfolgen und keine Scheuklappen zu haben, um Risiko zu streuen und sich daraus ergebene Gelegenheiten zu nutzen.

Die Spezialisierung auf eine Haltungsform oder der Anbau der immer gleichen Pflanzen führt seiner Ansicht nach zu mehr Abhängigkeiten und Unsicherheit in Krisensituationen. Multiperspektivisch und diversifiziert Landwirtschaft zu betreiben kann dagegen mehr Unabhängigkeit und Krisen-Sicherheit ermöglichen. Dabei sind ihm die Zwänge und Drucksituationen bewusst, in denen Bauern stecken, und er fordert mehr Verantwortung und Unterstützung der Politik und durch die Verbraucher:innen.

Gemeinsam überlegten wir uns drei Forderungen:

  1. Realistische Preise für konventionelle Produkte (Kosten der konventionellen Landwirtschaft für die Umwelt und Arbeitsverhältnisse realistisch bepreisen wodurch Bioprodukte günstiger wirken für den Verbraucher und das Bewusstsein für die wahren Kosten der Landwirtschaft gestärkt wird).
  2. Alle die etwas mit Landwirtschaft zu tun haben (Politiker, Lobbyisten, Bauern, Aktivisten, Betriebsleiter, Unternehmer) sollten im Zuge Ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung oder Studiums verpflichtend ein Praktikum bzw. praktische Erfahrung auf einem Tierwohl-, Kreislauf- und Gemeinwohl-orientierten (Bio-) Hof oder SoLawi-Betrieb machen (halbes Jahr mindestens)
  3. Flächengebundene Tierbestandsgrößen für eine artgerechtere Tierhaltung und extensive Weidenutzung